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Dr. Lothar Quinkenstein über Kama Kuik

Kamila Kuiks „Porträt-Atelier“ in der Aleksander-Fredro-Straße in Posen

Erinnerung an einen Ort der Bilder und Begegnungen 

 Wann sind wir uns zum ersten Mal begegnet? Mit Sicherheit kann ich es nicht mehr sagen, vermute, dass es um die Jahrtausendwende gewesen ist, und wenn ich den Moment erfinden sollte, würde ich den Kreis von Freunden zusammenrufen, der sich in jener Zeit so oft auch ohne Verabredung fand – in einem jener Lokale in der Altstadt von Posen, in denen heute eine Sushi-Bar oder ein Subway nichts mehr ahnen lassen von den magischen Labyrinthen, zu denen sich damals die Gassen verschlangen. Und an einem dieser Abende, der zu schön ist, um nach Hause zu gehen, wenn die Lokale schließen, könnte der Freundeskreis am Ende des Labyrinthes in eine Wohnung gelangen, hier oder dort, in der Kramarska-, in der Szewska-Straße, in der Chwaliszewo-, Rybaki- oder Kwiatowa-Straße, und „seitdem“, so könnte man es später erzählen, „seitdem“ kennen wir uns.

Muss also der Ort dazu auch vage bleiben – sehr gut erinnere ich mich an das Thema unserer ersten Gespräche, vielmehr: erinnere mich an den prägenden Eindruck, dass diese Gespräche nicht von einem „Thema“ handelten. Kunst ist für Kamila Kuik kein „Thema“, sie lebt in ihren Bildern, lebt durch ihre Bilder. Es ist eine Intensität der schöpferischen Empfindung, wie ich sie bei wenigen Menschen nur gesehen habe.

Von 2005 bis 2010 führte Kamila im Zentrum Posens, in der Fredro-Straße, das „Atelier für Porträtbegegnungen“. Nicht jedem deutschen Rezipienten wird wahrscheinlich auf Anhieb geläufig sein, dass dies eine Verbeugung vor einem der größten Genies des europäischen 20. Jahrhunderts darstellte: vor dem Maler und Schriftsteller Stanisław Ignacy Witkiewicz, der unter dem Namen Witkacy in die Kunst- und Literaturgeschichte einging und sich eine Zeitlang mit einem „Porträt-Atelier“ seinen Lebensunterhalt verdiente. Doch tritt Kamila Kuik nicht als Bürgerschreck auf, es geht ihr nicht darum, den Kunst liebenden Spießer in seiner Ignoranz zu entlarven, und sie experimentiert auch nicht mit Chloroform und Kokain. Den Visionär Witkacy, der beim Einmarsch der Deutschen 1939 Richtung Osten geflohen war, um sich dann, als er vom Überfall der Sowjetunion erfuhr, am 18. September in der Nähe des Dorfes Jeziory (heute Veliky Ozera, Ukraine) das Leben zu nehmen, hält sie in Ehren, ohne ihn imitieren zu müssen. Und seinen eigenen Hintersinn hatte es zudem, dass sie dieser Erinnerung an Witkacy damals in der Fredro-Straße einen Ort einrichtete – Aleksander Fredro (1793–1876) war einer der bekanntesten polnischen Komödiendichter.

Kamilas „Atelier“ war weit mehr als ein Arbeitsplatz. Im Getriebe des Tages blieben selbst die Eiligsten manchmal vor den Fenstern unter dem Arkadengang stehen und betrachteten einige Augenblicke lang die Szene, die sich bot – Kamilas Tätigkeit an der Staffelei, das reglos sitzende „Modell“, die Momente der Entspannung, die aus der versammelten Konzentration hervorgingen, um wieder in sie zu münden, mit einer Geste, einem Wort, einem Lachen. Dem draußen Stehenden stellte es sich als Stummfilm dar: die Entstehung eines Bildes.

Saß man in Kamilas „Atelier“, glitt die Zeit unversehens in andere Bahnen. Die „Modelle“ – und ebenso die Besucher – nahmen auf einem Sessel mit karamellfarbenem Bezug Platz, dessen Armlehnen mit einem Flechtmuster bespannt waren. Die Struktur dieser Verzierung fühle ich noch an den Fingerspitzen ... Und die Porträts an den Wänden vermittelten umso mehr das Gefühl, in vertrauter Gesellschaft zu sein, als jeder, der hierher zu Besuch kam, unter den Porträtierten eine Handvoll Freundinnen und Freunde sah. Wenn Kamila dann erzählte, wie die einzelnen Bilder entstanden waren, worüber sie sich mit den Menschen unterhalten und welche Züge sie in den Gesichtern entdeckt hatte, wurde deutlich, dass das Porträt für sie weit mehr ist als eine Gattung oder ein Metier. Gesichter sind für sie der Beginn des Dialogs.

Bilder standen auch am Anfang eines Projektes, das Kamila mit Atem beraubender Leidenschaft verfolgte. Begonnen hatte es mit einem Film: Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ inspirierte sie, über eine Performance nachzudenken. Als sie die Idee ausarbeitete, verzweigte sie sich in alle Richtungen – am Ende stand, im April 2007, die „Berlinada junger Posener KünstlerInnen“, die an sieben Tagen stattfand, mit einer Serie von Veranstaltungen, täglich vom frühen Abend bis Mitternacht, die quer durch die Zeiten zahlreiche Facetten Berlins aufleben ließen – bis hin zu den Comedian Harmonists und den Filmen von Friedrich Murnau. Seit dem regen Austausch zwischen Posen und Berlin, den die polnische Expressionistengruppe Bunt kurz nach dem Ersten Weltkrieg initiiert hatte, war das künstlerische Berlin nicht mehr derart präsent gewesen in Posen wie in jener Woche im April 2007.

Im selben Jahr trat Kamila eine Reise an, die mit dem Wort „Erlebnis“ nur höchst unzulänglich bezeichnet wäre. Eine glückliche Fügung hatte es eingerichtet (vielleicht auch zwei Engel, wer weiß …), dass sie eine Einladung bekam, an einer Sommerakademie für Freilichtmalerei im russischen Kotlas teilzunehmen, einer etwa 60.000 Einwohner zählenden Stadt in der Oblast Archangelsk. Die Aussicht, zu dieser Sommerakademie zu fahren, erfüllte sie einerseits mit Freude – nach den fieberhaften Monaten der „Berlinada“-Vorbereitungen sehnte sie sich nach nichts anderem als nach Momenten der Ruhe –, doch zugleich war sie zweifelnd, ob sie als Porträtmalerin dort „ihren Platz“ finden würde.

Sie nahm den Nachtzug nach St. Petersburg, nach einem Aufenthalt sollte die Reise dann weitergehen nach Kotlas. Ich half ihr an jenem Abend mit dem Gepäck. Zusammen fuhren wir mit dem Taxi zum Bahnhof. Und ich erinnere mich noch an die Momente auf dem Bahnsteig, an den einlaufenden Zug, an den Abschied, an ihre Hoffnung, dass es richtig sei, dorthin zu fahren.

Vom ersten Tag an fühlte sie sich wie zu Hause. Sie war begeistert von den Menschen, die sie kennen lernte, erzählte später von der herzlichen Atmosphäre auf der Sommerakademie, von der Natur, die sie genossen hatte, der Stille rings um den Ort, an dem sie gewohnt hatten, aber ebenso auch von der Melancholie, die in der Stadt zu spüren gewesen war, von den Lebensgeschichten, die sie hörte, und gewiss nicht verklärende Vorstellungen von der „russischen Seele“ prägten diese Erzählungen, sondern das Wissen um einen Alltag, der alle Kraft erforderte, wenn allen Widrigkeiten zum Trotz die Überzeugung bewahrt werden sollte, dass das Malen von Bildern der richtige Weg sei, diesem Alltag zu begegnen.

Ihre Sorgen bezüglich der Sujets zerstreuten sich von selbst. Die Freilichtmalerinnen und -maler widmeten sich der Landschaft – und Kamila porträtierte sie bei ihrer Arbeit oder an den Abenden, wenn sie zusammen saßen. Am Ende wurde eine Ausstellung organisiert, auf der Kamilas Porträts den zweiten Spiegel darstellten. Auf ihren Bildern waren die Gesichter zu sehen, die die Landschaft in sich aufgenommen hatten.

Wer den deutschsprachigen Wikipedia-Artikel zu Kotlas aufruft, stößt auf den Hinweis, dass es ein Deportationsort für „sogenannte Kulaken“ war, ebenso ein Durchgangsort für die Deportation „weiterer Häftlinge“. Im polnischen Artikel ist hierzu einiges mehr zu finden, denn diese „weiteren Häftlinge“ waren Polen, die bereits im Herbst 1939 und in großer Zahl dann ab dem Winter 1939/40 in den sowjetisch besetzten Gebieten verhaftet und unter der fingierten Anklage „antisowjetischer Propaganda“ nach Sibirien und Kasachstan verschleppt wurden. Im Lager Kotlas befanden sich zeitweise mehrere Tausend Polen. Unter elendsten Bedingungen starben dort, von Hunger und Krankheit ausgezehrt, unter vielen anderen Eugeniusz Bodo (eigtl. Bogdan Eugène Junod, 1899–1943), ein Star des polnischen Kinos der Zwischenkriegszeit, ein begnadeter Schauspieler und Tänzer, der selbst auch Regie führte und an Drehbüchern mitwirkte (bekannt sind die Fotos, auf denen er, ganz die Verkörperung des Dandys, mit seiner Dogge Sambo zu sehen ist) – und der Maler und Bildhauer Stefan Dauksza (1895–1941), der als Offizier des polnischen Heeres in sowjetische Gefangenschaft geraten war.

Kamila wusste selbstverständlich um diese Geschichte, und sie spürte, dass das Geschehene präsent war in der Landschaft, die so idyllisch den Ort umgab, an dem die Sommerakademie sich einquartiert hatte. Gemeinsam mit den russischen Malerinnen und Malern besuchte sie das Gelände des ehemaligen Lagers, die Stellen, an denen Gräber zu sehen, oft auch nur mehr zu ahnen waren, überwuchert und zugewachsen. Ein paar Jahre später erst sollten offizielle Initiativen den Ort in präziserer Form ins Gedächtnis rufen, unter anderem mit einer Erinnerungstafel für Eugeniusz Bodo.

Für Kamila waren diese Eindrücke von tiefer Bedeutung, Kotlas trug die Spuren der Geschichte, deren Gewalt Witkacy in den Freitod getrieben hatte. Dieses Wissen war nun verbunden mit der Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Tage, an die Gespräche, die Bilder, war verbunden mit den Freundschaften, die sie in Kotlas geschlossen hatte, und auf den Sommer 2007 folgten nicht nur weitere Besuche in dieser Stadt, sie knüpfte auch Kontakte zu zwei ehemaligen Häftlingen des Lagers Kotlas und porträtierte sie. In diesen Begegnungen mit dem Russen Michail Pusyriew und dem später in Weißrussland lebenden Polen Michał Kazimirowicz wurde einmal mehr greifbar, wie wenig sich Kunst als autonomer Bezirk denken lässt, der mit der Wirklichkeit angeblich nichts zu tun habe. Jede Landschaft ist Gedächtnis, denn jede Landschaft ist ein Ort der Geschichte. In der schönsten Stille der „Natur“ verbergen sich die grauenvollen Wahrheiten des Geschehenen – und die Erinnerung daran kann Wege bahnen durch die Gegenwart, Wege bahnen zu anderen Menschen.

Begegnungen zu ermöglichen – dieser Gedanke lag auch zwei weiteren Projekten zugrunde, die Kamila entwarf, organisierte und durchführte: „Portret Ulicy Fredry“ („Porträt der Fredro-Straße“) sowie „Urodziny Ulicy“ („Geburtstag einer Straße“). Für das „Porträt der Fredro-Straße“ trat sie in Kontakt mit den Anwohnern, den Inhabern der Geschäfte und den dort Beschäftigten. Und porträtierte sie. So konnte eine Frau, die etwa im Lebensmittelladen gegenüber arbeitete oder in der Boutique zwei Häuser weiter, eine Weile auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit ihr Porträt unter den Arkaden sehen. Zur Eröffnung dieser „Straßenausstellung“ standen Tische und Stühle auf dem Bürgersteig, Freunde und Bekannte brachten etwas zu essen und zu trinken mit, und für einen Nachmittag und einen Abend verwandelten sich ein paar Meter Straße in einen gänzlich neuen Ort. So hatte man die Fredro-Straße bis dahin noch nicht erlebt. Kamilas Bilder setzten das scheinbar Bekannte in ein neues Licht.

Ähnlich konzipiert war der „Geburtstag einer Straße“, den Kamila insgesamt vier Mal organisierte (2007, 2008, 2009, 2010). Diesen „Geburtstag“ verstand sie nicht zuletzt als Alternative zu dem in Posen stets mit einigem Aufwand gefeierten „Namenstag der Sankt-Martin-Straße“, einer breiten Ader, die parallel zur Fredro-Straße verläuft und zum 11. November in einen ebenso großen wie vernehmlich auf sich aufmerksam machenden, vorwiegend kulinarischen Markt sich verwandelt. Kamilas „Geburtstag“ war der sommerliche (und vor allem stillere) Kontrapunkt dazu, eine Huldigung, die dem am 20. Juni 1793 geborenen Komödiendichter sicher gefallen hätte.

Wenn heute die Straßenbahnen vor dem „Rundling“, dem wohl eigenwilligsten Bauwerk Posens aus der Zeit der Volksrepublik, in die Mielżyński-Straße abbiegen, gehen sie mit demselben Quietschen in die Kurve, fahren mit demselben Rumpeln über die Weichen wie vor sieben, acht, neun Jahren, doch die Tür unter den Arkaden ist jetzt eine Tür wie alle anderen auch. Von innen sind Jalousien vorgezogen. Keine Fotos mehr an den Scheiben, keine Postkarten, keine Zeitungsausschnitte. Blicke durch die Jalousienritzen lassen einen leeren Raum erahnen.

Heute arbeitet Kamila in der Posener Altstadt, in der ulica Ślusarska führt sie ihre „Portreciarnia“, fängt Gesichter und Charakterzüge ein, bringt die Farben zum Sprechen. Doch während ich diese Sätze schreibe, auf der Suche nach Erinnerung, spüre ich, wie sehr ich diese Tür in der Fredro-Straße vermisse, durch die man in eine andere Welt eintrat – mitten im Getriebe eines gewöhnlichen Tags.

Umso mehr freue ich mich, dass Kamilas Bilder jetzt den Weg ins Collegium Polonicum gefunden haben. Wo wäre ein besserer Ort für eine Begegnung der Blicke, eine Begegnung der Gesichter, als hier – an der deutsch-polnischen Grenze?

 

Lothar Quinkenstein